Ärztinnen und Ärzte sowie andere Gesundheitsberufe werden immer häufiger Opfer von verbaler und körperlicher Gewalt. Sie erhalten Drohanrufe, Anfeindungen über Briefe, SMS, Social Media oder E-Mail, gefälschte Bewertungen im Internet – etwa, wenn sie Patientinnen und Patienten darauf hinweisen, die Coronaregeln einzuhalten, oder sie nach ihrem Impfstatus befragen. Mitunter erfordert dies sogar Polizeischutz für Praxisteams oder Klinikambulanzen. Auch in den Notfallambulanzen kommt es immer wieder zu Übergriffen auf das Personal.
Der 125. Deutsche Ärztetag hat deshalb mit Nachdruck gefordert, Gewalt gegen medizinisches Personal gesamtgesellschaftlich zu ächten. Verbale und körperliche Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte und anderes medizinisches Personal fördere Unsicherheit und begründe Angst. „Das gefährdet die vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung nachhaltig“, betonten die Abgeordneten des Ärztetages.
BKA: „Impfgegner“ sind „relevantes Risiko“ für Arztpraxen
Mit Dauer der Pandemie sind auch immer mehr Arztpraxen und Impfteams mit Aggressivität und Gewalterfahrungen konfrontiert. Das Bundeskriminalamt (BKA) bewertet „Impfgegner oder Corona-Leugner“ mittlerweile als „relevantes Risiko“ im Zusammenhang mit Angriffen auf Impfzentren oder Arztpraxen. Für das „dort tätige Personal besteht die Gefahr, zumindest verbalen Anfeindungen bis hin zu Straftaten“ wie etwa Körperverletzung ausgesetzt zu sein, erklärte das BKA. Bisher seien überwiegend verbale Anfeindungen festgestellt worden, in wenigen Fällen körperliche Übergriffe. Genaue Zahlen fehlen jedoch bislang.
Die Landesärztekammern registrieren eine Zunahme an Übergriffen. So berichten verschiedene Ärztekammern von einer zunehmenden Aggressivität in der Pandemie. Der Sächsischen Landesärztekammer zufolge seien Ärztinnen und Ärzte Beleidigungen und Drohungen bis hin zu Gewaltandrohungen ausgesetzt. Auch Morddrohungen gegen Mitglieder der Sächsischen Impfkommission und Sachbeschädigungen an Arztpraxen, die sich am Impfen beteiligen, habe es gegeben. Ärzte, die in Schulen impfen, seien beschimpft worden. Die Aggression gegen Ärzte und medizinisches Personal habe eine Größenordnung erreicht, die nicht mehr tolerierbar sei, betonte Kammerpräsident Erik Bodendieck. „Diese Menschen verbringen den ganzen Tag damit, anderen Menschen zu helfen und werden dafür auch noch angefeindet. „Wenn ein Impfteam vor Ort impfwillige Menschen betreuen wolle, könne es nicht sein, dass sich andere darüber hinwegsetzten und die Ärzte als Mörder und Verbrecher bezeichneten.
Um aussagekräftige Zahlen und Informationen über Formen von ausgeübter Gewalt zu erhalten, hat die Landesärztekammer Hessen im Frühjahr 2019 den Meldebogen „Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte und Team“ entwickelt. Anhand des Meldebogens können Ärztinnen und Ärzte Vorfälle, die in den letzten zwei Monaten oder davor im Rahmen ihrer Tätigkeit geschehen sind, der Kammer zu melden. Die Auswertung erfolgt anonym und die Daten werden statistisch ausgewertet. Bis November 2021 sind 64 Meldebögen bei der Hessischen Kammer eingegangen; 27 vor Beginn der Pandemie und 37 danach. Der überwiegende Teil der Meldungen stammt aus Arztpraxen.
„Aus den Freitextangaben wird deutlich, dass das aggressive Verhalten vorwiegend gegenüber dem Praxisteam, insbesondere gegenüber den Medizinischen Fachangestellten, ausgeübt wird“, erklärte die Kammer. „Auch in den Fällen, in denen Gewalt im direkten Zusammenhang mit der Pandemie erlebt wurde, kristallisierte sich heraus, dass insbesondere Medizinische Fachangestellte beleidigt, beschimpft und bedroht wurden, da die Patientinnen und Patienten aufgrund der überfüllten Infektionssprechstunde längere Wartezeiten bemängelten oder ohne Termin in der Praxis erschienen sind und auf eine Behandlung drängten. Teilweise drohten diese Patienten aufgrund von längerer Wartezeit mit der Polizei. In einem Fall wurde eine Medizinische Fachangestellte während der Pandemiesprechstunde gegen die Wand geschubst, damit der Patient in das Sprechzimmer gelangen konnte.“
Es gehe um Bedrohungsszenarien, „die wir in dieser Form und Häufigkeit noch nie erlebt haben“, so PD Dr. Peter Bobbert, Präsident der Berliner Ärztekammer. Ihn erreichten sehr viele Nachrichten von Ärzten, die um Hilfe bitten würden, weil sie Drohbriefe erhielten oder ihre Adressen in sozialen Netzwerken gepostet würden. „Übergriffe auf Ärzte oder medizinisches Personal verurteilen wir auf das Schärfste“, bekräftigt die Kammer Sachsen-Anhalt. Unterschiedliche Meinungen oder Standpunkte rechtfertigten keine Drohungen oder körperliche Gewalt. So etwas sei inakzeptabel.
Die Kammerversammlung der Landesärztekammer Thüringen hat aufgrund der zunehmenden Aggression im Herbst dieses Jahres eine Resolution verabschiedet. In dieser wird – ebenso wie im Nachbarbundesland Sachsen-Anhalt – die verbale und physische Gewalt gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Ärztinnen und Ärzte scharf verurteilt. Auch wurde eine spezielle E-Mail-Adresse (gewalt-gegen-aerzte@laek-thueringen.de) eingerichtet, um Betroffenen eine erste Anlaufstelle zu bieten, Gewalterfahrungen zu melden. „In den vergangenen Monaten hat sich eine Vielzahl von Ärzten, die Drohschreiben in Bezug auf die Coronaimpfung beziehungsweise Schreiben als Haftungsinformation oder Haftungsbescheid deklariert erhalten haben, bei uns gemeldet“, erklärt die Kammer. In der Regel würden diese Schreiben anonym beziehungsweise von Vereinen oder sonstigen Institutionen an Ärzte versandt. In den Fällen, von denen die Kammer Kenntnis erlangte, habe sie mehrheitlich Strafanzeige gestellt. Die Ermittlungsverfahren liefen noch.
Auch für stationär tätige Ärztinnen und Ärzte gehört Gewalt mittlerweile zum Arbeitsalltag – nicht erst seit Beginn der Pandemie. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „GINA – Gewalt in der Notaufnahme“ der Hochschule Fulda. Zwischen April und Dezember 2018 hatte ein interdisziplinäres Forschungsteam 354 Beschäftigte in 51 hessischen Notaufnahmen zu psychischen, physischen und sexualisierten Gewaltereignissen befragt.
Knapp 76 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eine Form körperlicher Gewalt erlebt zu haben. Bei der verbalen Gewalt liegen die Zahlen noch deutlich höher. Hier bestätigten 97 Prozent der Befragten, im Laufe der letzten zwölf Monate mindestens eine Form verbaler Gewalt erlebt zu haben. Jede und jeder zweite Befragte (52 Prozent) gab an, mindestens einer Form sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Von denjenigen, die in den vergangenen zwölf Monaten eine oder mehrere Formen verbaler Gewalt erlebt hatten, erlebten 61,8 Prozent diese täglich oder wöchentlich.
Ärztetag: Verschärftes Strafrecht hilfreich, aber nicht ausreichend
Die zunehmende Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte ist auf der politischen Ebene angekommen. Der vormalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn initiierte 2020 eine Ausweitung des besonderen strafrechtlichen Schutzes auf Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger sowie Helferinnen und Helfer in der Notfallversorgung (§ 115 Absatz 3 StGB). Wer diese bei ihrer Arbeit behindert, sie verbal oder tätlich angreift, muss nun in schweren Fällen mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe rechnen. Für medizinisches Personal außerhalb der Notfallversorgung gilt das bislang nicht.
Aus Sicht der Abgeordneten des 125. Deutschen Ärztetages sei die Verschärfung des Strafrechts zwar hilfreich gewesen, damit Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe wirkungsvoller sanktioniert werden kann. Auch eine Vielzahl an Beratungs- und Fortbildungsangeboten für Ärztinnen und Ärzte sowie medizinische Fachangestellte bei den Ärztekammern seien gute Ansätze, der Entwicklung entgegenzuwirken; doch das reiche nicht.
„Wir brauchen darüber hinaus Kampagnen, die verdeutlichen, dass Ärztinnen und Ärzte allen kranken Menschen nach Schwere ihrer Krankheit und Dringlichkeit der Behandlung helfen wollen“, forderte der Ärztetag. Die zunehmend mit Aggression vorgetragene Anspruchshaltung Einzelner erschwere diese Hilfe erheblich.
Die Abgeordneten appellierten an jeden Einzelnen, verbaler oder körperlicher Gewalt in Praxen, in Krankenhäusern oder am Unfallort entgegenzutreten: „Der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Solidarität mit den Beschäftigten im Gesundheitswesen sind gerade in Zeiten wie diesen wichtiger denn je“, so der Ärztetag.